HYSTERIA DELICIOSA*

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Ich date sie seit meinem zwanzigsten Lebensjahr. In den vier Dekaden unserer Beziehung haben wir sowohl das häusliche als auch berufliche Umfeld geteilt. Zur aktuellen Debatte um Geschlechterfragen und Liebesweisen können wir als polyamouröses Paar in offener Beziehung beitragen. Sie ist an sich viele, das entspricht ihrem Wesen. Die jetzige ist längst nicht mehr die erste und die wievielte, weiß ich nicht.

Einige Jahre verloren wir den Kontakt und das Interesse aneinander. Seit Jahresbeginn ist sie wieder da, gleich drei ihrer Art umspielen mich. Ihre alterslose Attraktivität entfaltet ungebrochen Wirkung. Sie öffnet ihre herzförmigen Blätter vor mir. Ich bleibe ihr mit Hingabe treu.

Deliciosa war schon Influencerin als instagram noch nicht mal gedacht war. In den 60ern wurde ihr vorzugsweise das Sideboard im puristischen Ambiente konstruktivistischer Wohnlandschaften zugewiesen. Sie gab der gezähmten Natursehnsucht in bürgerlichem Ambiente ihre Gestalt, vielgliedrig und von unbändigem Wachstum, ihr herzförmiges Blattwerk das Versprechen ungezügelter Sinnlichkeit, im Übertopf gebändigt, wie das Tier im Zoo.

Skizze für eine Monstera Performance | Berlin 2007

Die Philosophen der Frankfurter Schule erkannten in der Zimmerpflanze das ‚Desiderat Natur als Lebensnerv des Rechtsradikalismus‘ und so grünte ihr Fensterblatt als natürliches Schmuckelement auf dem Nierentisch zwischen ‚bürgerlichen Subjekten als potentiell faschistische Individuen‚1. Ihre Gestalt trug den Schleier von Zigarettenrauch der 60er Jahre, ihr Blattwerk umwaberte der ‚Duft der großen weiten Welt‘: Photosynthese versus Peter Styuvesant.2

Durchatmen, Fenster auf.

Mit ihren Luftwurzeln behauptete sie, die Geraubte, Freiheit und mokierte sich über hymnische Gesänge von Heimaterde – Mutterboden – Vaterland.
Sie warf ihren Schatten in psychodelischen Formen über Wandverkleidungen und Ornamenttapeten. Sie war die V-Jane4 als die Lavalampen glühten und von Plattenspielern in amorphen Formen die Klänge der Exstase zum LSD Trip in die nächste Galaxis aufriefen:

freedom’s just another word for nothing left to loose.

Längst war das bäuerliche Dreieckstuch von der Kopfbedeckung zum politischen Accessoire avanciert und ihr Blatt zierte Stirnbänder im Boho-Chic.
Sie flirtete kokett mit den Kunstliebhaber:innen, die sich auf dem Panton Stuhl inszenierten. Sie grünte im Schein der Anne Jacobs Stehlampe. Sie hatte es geschafft. Ihre Formen waren Symbol geworden: Ihr Blattfächer ist Motiv auf Wallpapern, Laptop-Taschen und Duschvorhängen, ihre Herzhand wird auf Sofakissen appliziert, eine monstera app lässt sich im apple store downloaden, bei Rossmann ziert sie Brillenetuis.

Monstera Deliciosa ist die grüne Ikone der Wohnkultur und gehört zum Sortiment von Ikea.

Der Samen der Südamerikanischen Hemiepiphytin, die den indigenen Name Piñanona trägt, gelangte 1832 durch Wilhelm Friedrich von Karwinsky als pflanzenkundliches Raubgut von Mexico in die Botanische Staatssammlung München. Bereits 1863 war sie vom französische Botaniker Charles Plumier auf Forschungsreise im Auftrag Ludwig XIV auf Martinique entdeckt worden, Josef Ritter von Warszewicz begegnete ihr 1846 in Guatemala. Der Forscher begleitete eine Delegation der 1843 in Belgien gegründeten Compagnie Belge de Colonisation, die eine Kolonie in Guatemala gründen wollte.3

Neben dem ihr auferlegten kolonial-wissenschaftlichen Namen Monstera (monstrum lat. Wundergestalt, Ungeheuer) heißt sie in Spanien und Portugal Costilla de Adán, bzw. Costela-de-adão, Adamsrippe, in Frankreich, England und der Schweiz muss sie als Plante Gruyère  oder Emmentaler Cheese Plant den Vergleich mit löchrigem Käse ertragen. Auf Löwentatzen, Zampa die Leone, irrt sie durch Sizilien. Heute wird sie zumeist als Niederländerin gehandelt. Ihre Handelswege bleiben verschlungen, verlieren sich im Dickicht internationaler Pflanzenkonsortien. Ihr hippes Grün ist das nicht zertifizierte Deko-Element zum fairtrade Kaffee und Öko-Textil-Shirt. Ihre Schönheit verdankt sie Pestiziden.

Ihre Natur ist Schein. Ihren Co2 Blattabdruck hinterlässt sie als Textildruck, Fingernägel ziert sie als koloniales Tattoo.

Ich nenne sie Hysteria Deliciosa. Lege ich meine Wange auf eines ihrer Blätter, dann kühlt das dunkle Grün meine fiebrige Empfindsamkeit. Ich sammle ihre Tränen. An jedem Wochentag wähle ich ein anderes Blatt zum Kuss. Dringe ich in sie ein, ist sie der Ort, der mich birgt, verhüllt, umfängt. Mit ihren Früchten könnte sie mich nähren. Ihre Fensterblätter gewähren mir Ausblick.

Ich wohne in ihr.


Quellen

  1. Fritz Bühler (Grafiker) – Wikipedia / Peter Stuyvesant (Zigarettenmarke) – Wikipedia
  2. Bürgerliche Natursehnsucht und faschistisches Potenzial: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Leo Löwenthal über das Desiderat Natur als Lebensnerv des Rechtsradikalismus
  3. 15 Surprising Monstera Deliciosa Facts
  4.  VJ / VJane