HLAIBA

Wie im Krieg Lebensgrundlagen nicht nur durch Panzer und Haubitzen zerstört werden, sondern Hunger seit jeher als existenzvernichtendes, machtpolitisches Instrument der Kriegsführung erzeugt wird, thematisiert die Arbeit HLAIBA.

HLAIBA© Joachim Gern | rechts: Elke Wiese, Claudia Snow, Olena Moskovchenko, Lana Svirezheva, Liudmyla Dybka, Olena Kalinina, barbara caveng© Paolo Gallo

Ausgangspunkt für das soziale Brotwerk bildete ein Ährenrelief aus den 30er Jahren an einem ehemaligen Kornspeicher in der Stadt Pasewalk in Mecklenburg/ Vorpommern – eine Fassadenzeichnung aus Ziegelstein und Biberschwanz in der Größe von 2,5 x 2,5 Metern, die an Pasewalk als Ackerbürgerstadt erinnert und auf die Bedeutung der Region als Agrarstandort verweist – bis nach der Wende.

Der Deike-Winkelmann-Speicher am Bahnhof Pasewalk | Plakat HLAIBA beide ©bcaveng | Annäherung©Lana Svirezheva

Die fünf Ähren des Reliefs wurden im Rahmen eines kollaborativen Aktes von den SchriFTTmacher:innen barbara caveng und Lana Svirezheva gemeinsam mit Bewohner:innen der Stadt Pasewalk und Umgebung aus 144 Broten nachgebildet und am 23. und 24.7.2022 bei NUR KUNST in der Großen Kirchstraße 25/ Piazza Pasenelle von den Ladies Hlaiba* in einem Festakt präsentieret.

Alle Menschen in der Region waren eingeladen, ein Ährenkorn für das Werk, welches dem Leben in einer solidarischen Gemeinschaft gewidmet war, mitzubacken.

Alle Fotos ©Joachim Gern und ©Paolo Gallo

In einem mehrmonatigen Prozess hatten die Ladies und Lads Hlaiba, barbara caveng, Lana Svirezheva, Elke Wiese, Manuela Ammon, Claudia Snow, Larissa Soroko, Liudmyla Dybka, Oksana Moskovchenko, Lena Kalinina und Sebastian Arndt, sowie Teammitglieder, die ungenannt bleiben möchten, das Werk erarbeitet und zur Umsetzung gebracht.

160 Brote in Form von Ährenkörnern wurden uns innerhalb von 48 Stunden übergeben. ‚Kein Krieg ums Brot!‘ – mehr als 100 Menschen hatten den Gedanken aufgenommen und zu dem Brotwerk, welches für das Leben in einer solidarische Gesellschaft steht, ihr Ährenkorn-Brot beigetragen. Die Bäcker:innen kamen von nah und fern, aus Pasewalk, der Region, aus anderen Bundesländen, zwei der Brote wurden jenseits der Landesgrenzen gebacken. Unter ihnen sind Menschen, die ihr Leben in in Pasewalk lebten, solche, die wiedergekommen sind und solche die Stadt verlassen haben, Besucher:innen, vorübergehend Verweilende, Menschen, für die der Ort Zuflucht vor Krieg bedeutet. Die Ladies Hlaiba hinterfragten herrschende Machtverhältnissen suchten nach an einem feministischen Gegenentwurf als einer friedvolleren gesellschaftlichen Vision.

Weizenbrot, Zypernbrot, irisches Soda-Brot, Toastbrot, Tomatenbrot, Maisbrot, Brot mit Kukuma und Cranberries, Sauerteigbrote … die gebackenen Ährenkörner bewiesen Charakter und Geschmack. Die Laibchen verheißen Genuss und Freude, manche bergen Schmerz und Tränen. Am 23.7.2022 wurden die Ährenkörner-Brote zum Ganzen gefügt. Die einzelnen Brote konnten gegen Spenden erworben werden. Der Erlös kam Studierenden der Taras Shevchenko – Universität in Kiew zugute.

Das Brot-Bild unterlag einem steten Wandel: Backwerke wurden verköstigt, übergeben und ihr Platz im Relief durch neue ersetzt – die letzten Brote überreichten wir den Besucher:innen der Tagesstätte der Volkssolidarität, die dem Werk gemeinsam gebackenes Sonnenblumenkernenbrot hinzugefügt hatten.

Heide-Lore Fritsch repräsentierte mit ihren Ährenkorn-Broten, die Familiengeschichte Deike-Winkelmann in dem Brotwerk. Heide-Lore ist die Enkelin von Friedrich Herrmann Winkelmann und dieser, also ihr Großvater, war Mitinhaber der Firma Deike-Winkelmann und Miterbauer jenes Kornspeichers, an dessen einstige Bedeutung und Funktion das Ährenrelief an der Fassade erinnert.

In unmittelbarer Nähe zum Speichergebäude erhebt sich ein mächtiges Silo, ein weißer 80 000 Tonnen-Kornpalast erbaut vom VEB Fortschritt, Relikt florierender Agrarwirtschaft und Wahrzeichen der Stadt.

Bis zu 400 Tonnen Getreide pro Stunde wurden im VEB Getreidewirtschaft Pasewalk zu DDR-Zeiten umgeschlagen. Der ehemalige volkseigene Betrieb ging nach der Wende in Besitz des HaGe Konzerns über und ist für die Arbeitswelt der Menschen vor Ort kaum mehr von Bedeutung. Seine Silhouette – in Beton gegossenes Lebensgefühl, Erinnerung gespeichert in acht Röhren. Auch die Mehrzahl der Getreidemühlen in der Region stehen längst still, sind Museum oder Gaststätte.


„Brot ist der Kopf von allem“ – Ukrainisches Sprichwort

20 Millionen Tonnen Getreide lagerten laut Medienberichten im Frühjahr 2022 in den Ukrainischen Speichern – genug um die Welt vor dem zu bewahren, was akut drohte: eine Hungerkatastrophe, die die bestehende Notlage von Millionen Menschen drastisch verschärfte. Jemen, der Tschad, Somalia, Libanon…. Jeden Tag rückten weitere Länder in den Blickpunkt, deren Bewohner:innen vom Hungertod bedroht waren und teilweise auch weiterhin sind.

Holodomor– Tod durch Verhungern aus wirtschaftlichen Interessen – zwischen 3 und 7 Millionen* Menschen verhungerten während der von der Sowjetunion in der Ukrainischen Sowjetrepublik vollzogenen Zwangsindustrialisierung der Landwirtschaft in den 30er-Jahren. Auch daran erinnert der Strauß aus fünf Ähren: „Wir erinnern uns an den Holodomor und das berüchtigte ‚Gesetz der fünf Ährchen‘ . Dieses Gesetz wurde zu einem Vorboten des Holodomor. Es sah den Diebstahl von Kolchose-eigentum durch Hinrichtung an Ort und Stelle und die Konfiszierung des Eigentums vor. Das ist schockierend, aber selbst ein paar Ährchen, die auf dem Feld unter dem Schnee überwinterten, galten als solches Eigentum.“ Worte von Maryna Bielinska, Psychologin aus Kiev, am 23.5.2022 in einem Austausch über das Projekt ‚Hlaiba‘.



In der Sammlung „Beiträge zur Geschichte Pasewalk“ aus dem Jahr 1988 findet sich ein Gedicht von Elisabeth Haase. Es liest sich, als hätte sie es gerade geschrieben…..

Plakat | Grafik ©barbara caveng

WARBREAD -KRIEGSBROT
BROT NÄHRT DEN KÖRPER UND BÜCHER NÄHREN DEN GEIST. Parallel zum Brotwerk HLAIBA, welches zur Auseinandersetzung einlädt mit der Frage, wie wir mit Nahrung umgehen, entstand in Zusammenarbeit mit Leh­renden und Studierenden der Taras Shevchenko National University of Kyiv die Arbeit WARBREAD, mit der nach der Bedeutung geistiger Nahrung in Form von Literatur und Poesie gefragt wird. Die Installation WARBREAD wurde im Museum Brot und Kunst, Ulm von Juli bis September 2022 zum ersten Mal gezeigt.


*Ladies HLAIBA bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes nachgelesen im Wahrig Wörterbuch:
*Lady in England: Titel für adlige Frau, auch allg.: Dame
engl. lady, aus mengl.lafdi, lavede, aus altengl. hlæfdige „Hausherrin“, eigtl. „Brotmacherin“, aus altengl. hlaf „Laib Brot“ (zu got. hlaifs, altnord. hleifr „Laib Brot“) und altnord. dige „Magd“ (der das Teigmachen obliegt, zu got. digan „kneten“)

HLAIBA ist Teil des künstlerisch-partizipatorische Rechercheprojekt schriFTTmacher:innen, realisiert zwischen Februar und August 2022 im Rahmen einer Dorfresidenz in Pasewalk Mecklenburg-Vorpommern. barbara caveng wurde künstlerisch begleitet von der Malerin Lana Svirezheva.
Die Pilotresidenz wurde gefördert durch das Kulturlandbüro Uecker Randow und unterstützt von der Stadt Pasewalk und dem Museum der Stadt Pasewalk.

Das Kulturlandbüro wird gefördert in TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, und aus Mitteln des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern, des Vorpommern-Fonds – Parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern, des Landkreises Vorpommern-Greifswald, der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Sparkasse Uecker-Randow.