CORONOMANIA performing social distancing

barbara caveng CORONOMANIA performing social distancing 2020

Die insgesamt 3-teilige Corona-Edition und Performance entstand während der ersten Wochen der Pandemie und des lock downs im April 2020 in Berlin.

Postkartenedition Auflage 75
Inkjet Druck auf Clopapier

Die Straßen, Plätze und Parks waren so leer, wie die Regalbretter in den Drogeriemärkten. Das vertraute Sixpack Wegbier unter dem Arm der Passanten war einer Vorratspackung Kokett Clo-Papier gewichen. Sanft und saugfähig: An der Peripherie ergatterte ich noch eine Packung des kostbaren Stoffes und verarbeitete ihn – der Zeit gemäßes- zu einem repräsentativen Social-Distancing-Kleid .

Aus dem Tagebuch, April 4 | 2020

“The World Was Silent While We Died“

Chimamana Ngozi Adichie | Half of a yellow sun

Wir sterben nicht. Noch nicht. Nicht jetzt.

Es ist Nacht. Der 3. und 4. April teilen sich die Stunden, die hinter geschlossenen Lidern vergehen.
Drehen sich die Schläferinnen nach rechts, erinnern sie sich an den vergangenen Tag, wenden sich nach links tauchen Ahnungen auf. Die Gischt des Schlafes spült die Zeiten hinweg.

„Die Toten steigen aus.“ 1
Ich denke nach – wie sollte dies möglich sein? Die Toten müssten die drei Stufen der kleinen Treppe am Zugwagon abwärts überwinden, um auf das Perron zu gelangen und sich unbemerkt in den Rhythmus der Lebenden einzuordnen. Bewegung ist doch denjenigen vorbehalten, deren Herz schlägt. Die ohne Puls liegen starr unter weißen Laken. Allein der Luftzug, der das Tuch bewegt, erschreckt diejenigen, die die Totenwache halten.

„Wir sitzen alle im gleichen Zug und fahren quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug und keiner weiß, wie weit.“ 2

Ich sehe diesen Vers. Schwarz hebt er sich vom Grund der Imagination. Er liest sich aber nicht als Worte, sondern er zeigt sich in Formen, als Ornament. Ich lese ihn vom Horizont ab.

Kein Licht dringt ins Zimmer. Wahrscheinlich ist es drei Uhr.
Ich liege im Bett unter zwei Decken. Der Satz hat mich geweckt.

Die verlassene Stadt wird zur Argonautenlandschaft. Ausgeweidete Kadaver säumen die Straßenränder, Skelette lehnen mit verdrehter Wirbelsäule an den Hauswänden oder beißen in den Rinnstein. Es sind die Kühlschränke und Gerippe der Kinderwagen, die dem Verfall am längsten trotzen und die bezeugen, das sich an dem verkommen Ufer Lebende hinter den schwarzen Scheiben verbergen.

Kleidungsstücke mal hier mal da, einzeln über Geländern, durchnässt in Haufen an Baumscheiben, wuchernde Gebilde mit ausgebreiteten Armen, aufgetürmt zu einem Wall vor dem Container.
Dummies.

„Lieber Mensch ohne Zuhause“, ein kurzer Brief, an einen Zaun geheftet, fordert zur Selbstbedienung auf: Jacken, Mäntel; T-Shirts, Pullover werden angeboten – Attrappen für den menschlichen Regelfall. Warum nicht, „sehr geehrt“ als Ansprache? Das Antlitz der Menschen, die ihre Biwaks aus Matratzen und sonstigen Füllstoffen entsorgten Wohlbehagens vor zerstörten Telefonzellen und an den Rolltreppen zu Aldi oder REWE einrichten, erschien mir nie ‚lieb‘. Die Gesichter sind oft rauh, manchmal ein wenig einschüchternd, gezeichnet vom draussen.
Die abgewandten, im Halbschatten von spärlichem Licht erhellten Zügen erinnern mich an Portaits aus dem 17 Jahrhundert.

Wie sich plötzlich Heiner Müller und Rembrandt eine Gegenwart teilen.

Als ich beinahe ungehindert die normalerweise vom Autoverkehr und mit ihm konkurrierenden Verkehrsmitteln umkämpfte Karl-Marx-Straße überquere, kreuzt im Geiste der Handelsvertreter für Bastelbögen meinen Weg. Er ist zwischen den Kulissen der Stadt hervorgetreten. Wir kennen uns schon lange – seit Anfang der 70er Jahre. Er besuchte uns Grundschüler*innen unter dem Giebeldach des dörflichen Schulhauses regelmäßig einmal im Jahr. Sein Lederkoffer mit den goldenen Verschlüssen enthielt die Muster der aktuellen Bastelbögen: eine Burg war immer dabei, auch ein Bauernhof oder ein aneres landwirtschaftliches Gebäude und manchmal gab es historische Architektur: darunter fiel der mittelalterliche Straßenzug mit den schmalen hohen Bürgerhäusern.
Die Pappe ließ sich leicht falzen und in Form bringen, die Gebäude waren allerdings nur von geringer Stabilität. Das Temporäre, welches den aus diesem Bastelbogen generierten Häusern eingeschrieben war, empfinde ich jetzt beim Überqueren der Straße mit Blick auf ihren Saum von Alt-, und Neubauten.

Am Anita Berber Platz, der ans Tempelhofer Flugfeld breiten sich ganz still die Veilchen aus.

‚Es war di schlechtste aller Zeiten, es war di schlechtste aller Zeiten
Und gans erlich, mir wurde ein bisschen schlecht im Härzen.‘3

Später wird der Himmel wieder Coronablau leuchten.

Die Abstände zwischen den Lebenden vergrößern sich. Eine doppelte Armlänge ist jetzt das Maß zwischenmenschlicher Begegnung. „Nun aber bloß keine Schnappatmung.“ Die Chefin im Bioladen weist eine Kundin zurecht, die hilflos zwischen zwei mit Ostergras dekorierten Regalen steht und weder den Schritt nach vorne, noch nach hinten wagt. „Sie habe“, fügt die rotwangige Chefin der „Bioase“ hinzu, „die Regeln nicht gemacht“. Ein alt-lila , bzw. verwaschen auberginenfarbenes Baumwolltuch dient ihr als MundNasenSchutz. Ob sie das noch aus Alice-Schwarzer-Tagen im Schrank liegen hatte? Ihr Blick fällt auf meine Schuhe. Sie gefallen ihr. Froh nicht Zielscheibe ihrer forschen Kommentare zu sein, beantworte ich bereitwillig ihre Fragen nach Hersteller und Bezugsquellen. Ich stelle meine beiden Fläschen Vanille-fresh Schwedenmilch auf den Tresen
Die Menschen blinzeln verschreckt über den Horizont der Maske hinweg. Die Stimmung des 4. April ist aggressiv.

Die Warschauer Straße riecht, als hätten sie in der Sauna zu viel hochprozentiges in den Aufguss gegossen.

1,2 Erich Kästner, Eisenbahngleichnis
3 George Sauders, Fuchs8